Ein Fluss der Ideen
Kunst und Technik ist kein Widerspruch. Ganz wie es der Vergangenheit des Industrieviertels entspricht, schaffen wir Zeit und Raum für neue kreative Ideen. Durch Erforschung und Bewertung der historischen Ereignisse und Entwicklungen, gewinnen wir neue Sichtweisen.
Der Wiener Neustädter Kanal
Was auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkt, zeigt mit Blick auf seine Geschichte eine erstaunliche Glanzleistung von Ingenieurskunst und Gestaltungswillen: 1797 wurde begonnen, den Wiener Neustädter Kanal quer durch das heutige Industrieviertel bis nach Wien zu bauen. Der Hafen in Wiener Neustadt lag um ca. 100 m höher, als der Hafen in Wien Landstraße. Das heißt, die voll beladenen Schiffe konnten dadurch bei geringer Strömung etwas leichter in Richtung Bundeshauptstadt gezogen werden.
Ziel der Unternehmung war es, den Rohstofftransport von Kohle, Ziegeln und Holz leichter und kostengünstiger zu machen. 1797 erfolgte nach ausgefeilter Planung der Spatenstich. Sebastian von Maillard, Ingenieur-Oberstlieutenant der Habsburgermonarchie, war Planer und 1. Bauleiter des Wiener Neustädter Kanals. Die ausgefeilte Schleusentechnik ermöglichte die Überwindung zahlreicher Hindernisse auf dem Weg von Wiener Neustadt nach Wien. Es ist auch keine Übertreibung zu sagen, dass der Wiener Neustädter Kanal die Lebensader für die Entstehung des Industrieviertels war und auch eine bedeutende Rolle für die Entwicklung von Wien spielte. Er ist daher ein echter Durchbruch von Süden nach Morgen.
Inzwischen ist ein Teil des Kanal still gelegt und in seiner Rolle als Transportweg von Straßen und Schienen abgelöst. Trotzdem beeinflusst er noch heute das Industrieviertel ganz enorm. Schon immer suchten nämlich wichtige Unternehmen in dieser Region die Nähe zur Haupttransportader – viele davon sind bis heute geblieben und entwickeln laufend Innovationen Made in Austria, die sich weltweit großer Nachfrage erfreuen.
Von Wien zur Adria – Der Wiener Neustädter Kanal
Dipl. Ing. Fritz Lange ist gegenwärtig der beste und bedeutendste Kenner des Wiener Neustädter Kanals. Er hält laufend Vorträge zu diesem Thema und hat auch bereits mehrere Bücher verfasst. Wir danken ihm sehr herzlich dafür, dass er auch für unsere Website diesen so interessanten und kurzweiligen historischen Überblick erstellt hat.
Der Wiener Neustädter Kanal ist eines der bemerkenswertesten technischen Bauwerke Österreichs. Was heute wie ein missglücktes Relikt wirkt, war vor dem Entstehen der ersten Eisenbahnen für viele Jahre ein erfolgreiches Transportunternehmen.
Zwischen Wiener Neustadt und Biedermannsdorf liegt der letzte Teil eines künstlichen Wasserwegs, der 1797 als Verbindung Wiens mit der Adria begonnen worden war. Von der bis Oberlaibach in Slowenien (Vrhnika) vermessenen Trasse mit 560 Kilometer Länge und 504 Schleusen wurden lediglich 63 Kilometer zwischen Wien und einem Sattel bei Pöttsching realisiert. (Abb. 1) Auf mehr als der Hälfte dieser Strecke fließt immer noch Wasser!
Abb. 1
Ein Plan von etwa 1845 zeigt die gesamte realisierte Kanalstrecke vom Stubentor bis zum Pöttschinger Sattel.
Anlass für den Bau dieses Wasserweges war der Brennstoffmangel in der schnell wachsenden Residenzstadt Wien. Holz war Ende des 18. Jahrhunderts teuer geworden und wurde aus immer weiter entfernt liegenden Wäldern herbeigeschafft; Kohle aus den Gruben bei Wiener Neustadt und vom Brennberg bei Ödenburg war durch die hohen Transportkosten praktisch unverkäuflich. Die Eigentümer der „Wienerisch Neustädter Steinkohlengewerkschaft“ Bernhard von Tschoffen, Joseph Reitter und Anton Graf Apponyi wollten deshalb durch einen Schiffskanal von Schottwien nach Wien die Transportkosten senken. Im November 1794 begeisterten sie Kaiser Franz II für ihren Plan, der seine Unterstützung zusagte. Vor allem eine Fortsetzung des Kanals zur Adria, wie in älteren Plänen bereits angedacht, schien dem Kaiserhaus wichtig. Franz II. bestimmte den aus Lothringen stammenden Oberstleutnant Sebastian von Maillard zum „Direktor der hydraulischen Unternehmung“.
1795 bewilligte Kaiser Franz II für Maillard, von Tschoffen und weitere Berater eine Studienreise nach England, um die neuesten Kanalprojekte zu studieren. Beeindruckt von den in Bau befindlichen „ökonomischen“, das heißt schmalen Kanälen sollten die Kanalschiffe nach englischem Vorbild etwa 2 Meter breit und 23 Meter lang werden und damit sparsame Kanalbauten ermöglichen. Der Wasserweg sollte alle Flüsse mit „Brück-Kanälen“ überqueren und neben dem Wienfluss nahe der Stadtmauer beim Stubentor enden. Ein Zweigkanal von Ödenburg nach Raab/Győr sollte den damals nur zeitweise schiffbaren Donaustrom unterhalb von Preßburg umgehen, die Hauptstrecke von Ödenburg nach Triest führen.
Abb. 2
Aufriss von drei typischen Kanalaquädukten in ursprünglicher Ausführung. Nur die beiden unteren Flussquerungen sind noch vorhanden. (Grafik F. Lange)
Nivellierung bis Oberlaibach
Maillard nivellierte diese Trasse gemeinsam mit Joseph von Schemerl, Landesbaudirektor in Krain, über Ungarn, die Steiermark und Krain bis nach Triest. Er schränkte allerdings ein: „Da endlich auf dem übrigen Wege von Oberlaubach nach Triest nichts als kahle, poröse und aus vielen Höhlungen bestehende Felsen angetroffen worden sind, so ist auf dieser Strecke kein Kanal ausführbar“. 1797 beteiligte sich Franz II an der Gesellschaft und in diesem Jahr begann bei der dreifachen Schleuse in Guntramsdorf der Bau des Kanals.
Neben Maillard leiteten Hauptmann Swoboda, Professor der Wiener Neustädter Militärakademie, und Joseph von Schemerl den Bau der einzelnen Abschnitte. Der Kanal wurde durch Kurven, Dämme und Einschnitte so angelegt, dass von Wien ein Anstieg bis zum 100 Meter höher liegenden Pöttschinger Sattel entstand, von wo die Strecke nach Ödenburg wieder abfallen sollte. 50 Schleusenkammern, von denen einige zu Gruppen zusammengefasst waren, überwanden den Höhenunterschied. Gespeist wurde der Kanal hauptsächlich vom Wasser der Leitha. Schleusen und Brücken wurden genau nach den englischen Vorbildern errichtet, nur bei flachen Aquädukten verwendete Maillard Holz statt Gusseisen. Die lichte Weite der ersten Schleusen betrug nach Maillards Plan 2,21 Meter, die Länge der Schleusenkammern 24,6 Meter, die Wassertiefe des Kanals 1,26 Meter.
Abb. 3
Der Aquädukt über den Liesingbach bei Kledering konnte trotz der Sprengung eines Pfeilers bis 1979 noch die Züge der Aspangbahn tragen.
Krieg mit Frankreich und Staatsbankrott verhindern Baufortschritte
Die Arbeit von 1.200 Militär- und Zivilarbeitern wurde immer wieder durch Einberufungen für den Krieg gegen Frankreich unterbrochen. Ständige Konflikte zwischen Maillard und den Bauherren führten dazu, dass er ab 1799 nur mehr für die Planung verantwortlich war und Ende des Jahres entlassen wurde. Schemerl übernahm die Bauleitung und musste zunächst einsturzgefährdete Kanalbauwerke in stabilerer Ausführung neu errichten lassen. Alle folgenden Schleusen wurden 1 Fuß breiter mit 2,53 Meter lichter Weite erbaut. 1802 übernahm der an dem Verkehrsweg stark interessierte Staat alle Anteile des noch unvollendeten Kanals. Um möglichst rasch Nutzen aus diesem zu ziehen, wurde das Teilstück zwischen Wien und Wiener Neustadt 1803 in Betrieb genommen, noch bevor die Strecke bis Ödenburg fertig gestellt war. 1805 und 1809 besetzten Napoleons Truppen Wien. Enorme Kriegsentschädigungen, Staatsbankrott, neue Steuern und Gebietsverluste folgten. 1811 kam der Kanalbau am Pöttschinger Sattel endgültig zum Erliegen kam.
Kanalwasser als Antrieb für Mühlen und Fabriken
Neben den Schleusen entstanden schon in den ersten Jahren zahlreiche Mühlen und Fabriken, die das Gefälle als Antriebsquelle nutzten. So ist die Geschichte des Wiener Neustädter Kanals eng verbunden mit den durch ihn entstandenen Industriebetrieben der Biedermeierzeit. Nach großen Verlusten durch staatliche Misswirtschaft bei Betrieb und Erhaltung wurde der Kanal zwischen 1822 und 1871 an fünf verschiedene Pächter vergeben, darunter die „Ziegelbarone“ Alois Miesbach und Heinrich Drasche. Erst die Kanalpächter konnten den Betrieb wirtschaftlich und für den Staatshaushalt gewinnbringend führen. Alle Schleusen waren im Lauf der Jahre auf die von Schemerl gewählten Maße verbreitert und die Wassertiefe auf 1,6 Meter erhöht worden, sodass ein Pferd nun eine Last von 30 Tonnen befördern konnte. Das rasche Wachstum Wiens nach dem Fall der Stadtmauern war nicht zuletzt auch dem Wiener Neustädter Kanal durch Zufuhr von billigem Heizmaterial zu den Ziegelfabriken und durch günstigen Transport der Ziegel nach Wien zu verdanken. Brennholz für Wien lieferte der als „Raxkönig“ bekannte protestantische Schwemmunternehmer Georg Hubmer aus Naßwald, der dieses mit 30 eigenen Schiffen transportierte.
Abb. 4
Trotz bestehendem Denkmalschutz wurde die Pottendorfer Brücke Mitte der 1980er Jahre abgerissen.
Vom Kanal zur Aspangbahn
Die schrittweise Zerstörung des Kanals begann 1848, als die Strecke zwischen Rennweg und dem ersten Wiener Kanalhafen für den Bau der Verbindungsbahn verwendet wurde. Ein neuer Hafen wurde oberhalb des Rennwegs bei der heutigen Aspangstraße angelegt, dessen Abfluss in einem gemauerten Gewölbe abwechselnd unter Oberer, Rechter und Linker Bahngasse bis zum Wienfluss geleitet wurde, um Antriebsenergie für mehrere Fabriken zu liefern.
Noch vor Ablauf des letzten Pachtvertrags wurde der Kanal 1871 an die „Erste Österreichische Schifffahrtscanal-Actiengesellschaft“ verkauft, die eher am Bau einer Eisenbahn interessiert war. So erfolgte 1879 die nächste Kanalverkürzung, als der zweite Wiener Kanalhafen zugeschüttet und darüber der Aspangbahnhof errichtet wurde. Ab Kledering wurde der Kanal zu einem nicht mehr schiffbaren Industriegewässer mit Dükern verengt, um Lokomotiven zu speisen und Fabriken anzutreiben. Mit diesem Jahr endete auch der regelmäßige Schiffsverkehr am Kanal. Am südlichen Ende wurde die Kanalstrecke 1916 verkürzt, als in Wiener Neustadt das Kraftwerk Ungarfeld genau auf der Kanaltrasse errichtet wurde. Ein neu von der Leitha abgeleiteter Wasserzufluss versorgte sowohl das Kraftwerk als auch zu einem kleinen Teil den Wiener Neustädter Kanal. Damit war die alte Speisung aus damals ungarischem Gebiet überflüssig und die Trasse zum Pöttschinger Sattel wurde ebenso wie der nun abgeschnittene Wiener Neustädter Kanalhafen trockengelegt. Wirtschaftliche Schwierigkeiten der „Austro-Belgischen Eisenbahn- und Industrie AG“, wie die Gesellschaft inzwischen hieß, führten 1930 zur Auflassung der Wiener Strecke. Der Kanal wurde bei der Krottenbachschleuse bei Biedermannsdorf abgemauert und sein Wasser in den Krottenbach geleitet. 1936 entstanden neben bisher ungenutzten Schleusen 13 kleine Elektrizitätswerke, von denen sieben den Krieg überstanden und durch ihre solide Bauweise noch heute, nach fast 80 Jahren, Strom in das Netz der Stadt Wien einspeisen.
Land Niederösterreich als Kanalbesitzer seit 1956
Wiener Neustadt war im Zweiten Weltkrieg Ziel massiver Bombenangriffe, die den Kanal an mehreren Stellen unterbrachen. Seine drohende Auflassung wurde vom Land Niederösterreich verhindert, das den Kanal seit 1956 besitzt. Zwischen dem Kraftwerk Ungarfeld im Süden und dem Mödlingbach, seit 1972 das nördlichen Ende, befindet sich jener 36 Kilometer lange Abschnitt, auf dem heute noch Wasser fließt. Hier gibt es derzeit noch 40 Schleusenkammern, sieben Aquädukte und neun alte Brücken, deren Erhalt dem Land Niederösterreich zunehmend schwerer fällt.
Abb. 5
Knapp unter dem Niveau des Aspangbahnhofs blieben Fundamente und Seitenmauern des zweiten Wiener Kanalhafens bis 2010 erhalten.
Unnötige Zerstörungen nach 1945
Ein schmerzlicher Verlust war 1982 der Abriss des imposantesten Bauwerks am Kanal, des von Joseph Schemerl geplanten Aquädukts über die Liesing bei Kledering, das sich im bereits trockenen Kanalteil befand. Nach dem Einsturz des von Maillard geplanten Baus 1799 hatte Schemerl diese Flussquerung ganz besonders massiv ausführen lassen. Der Kanal wurde 12 Meter über dem Niveau der Liesing mit drei Bögen aus Stein und Ziegeln und einer gesamten Spannweite von 18 Metern geführt. Ab 1880 benützte die Aspangbahn den Aquädukt zur Querung der Liesing. Obwohl einer der Pfeiler am 2. April 1945 „zur Verteidigung Wiens“ gesprengt wurde, stand der verbliebene Teil noch immer stabil (Abb. 3). Die Lücke wurde mit Stahlträgern überspannt und bis 1980 fuhren noch die Züge der Aspangbahn über das fast 200 Jahre alte Kanalrelikt. Im August 1982 wurde der Aquädukt abgerissen und die anschließenden Dämme eingeebnet.
Aber auch einige der typischen Kanalbrücken teilten dieses Schicksal. Insgesamt wurden 54 Brücken erbaut, also fast jeden Kilometer eine Brücke. So waren um 1970 sämtliche der fünf Brücken im fast unbesiedelten Steinfeld noch im Originalzustand erhalten. Bis Mitte der 1980er Jahre dienten die Pottendorfer und die Blumauer Brücke ebenso wie die meisten anderen Kanalbrücken nicht mehr dem heutigen Verkehr. Leider wurden sie um 1970 trotz bestehendem Denkmalschutz sie abgerissen. (Abb. 4)
Erst 2010 wurde mit den Resten des zweiten Wiener Hafens ein verschwundenes Kanaldenkmal freigelegt und dokumentiert. Auf dem Gebiet des ehemaligen Aspangbahnhofs, heute „Eurogate“, wurden 2009 Baugruben für neue Wohnhausanlagen ausgehoben. Die Stadtarchäologie Wien konnte dabei nicht nur die Umfassungsmauern des Hafens freilegen, sondern auch die Pflasterung des Ausladeplatzes und den Beginn des unterirdischen Ablaufkanals zum Wienfluss. (Abb. 5)
Copyright Text und Bilder: Fritz Lange